02.09.2015

Regentropfen in einem Weinglas








Steinskulptur    ein Gedanke tritt langsam    in die Zeit











Ein Riß im Himmel.
Die Schatten der Vorfahren
hinter unserm Haus.












Kalksandsteinabbruch.
Das Gedächtnis einer Zeit
wechselt seine Form.






Beate Conrad













Regression
mein Blick
in den Spiegel







Hans-Jürgen Göhrung













Ihre Hände -
Dürer muss sie gekannt haben







Ilse Jacobson























Birgit Helmlechner












LINE PIECE II
___ die dunklen Augen
einer Fleckengalaxie







Ramona Linke









Dietmar Tauchner

Regentropfen in einem Weinglas


Kompendium zur Entwicklung der modernen Haiku-Dichtung*





haikai wa atarashimi wo motte inochi to zu.
Das Haikai lebt vom Neuen.

Kyorai an Kikaku (1)





I Shômon-Schule - der ideelle Beginn



In gewisser Weise könnte der Beginn des modernen Haiku auf das 17. Jahrhundert tradiert werden. Mit der Haikaidichtung von Matsuo Bashô und seiner Shômon-Schule entwickelte sich eine Poetik, die eindeutig moderne Züge erkennen ließ. Sofern man sich in Bezug auf den Begriff "modern" auf eine mögliche Bedeutungsebene im Sinne von "Paradigmenwechsel" einigen mag, initierte Bashô einen solchen durch eine vielschichtige Poetik, die bis heute kaum an Frische verloren hat. Modern ist: wenn eine neue Epoche beginnt, eine Innovation auf den Plan tritt, eine deutliche Veränderung hinsichtlich des bisherigen Status Quo, über nur modische Attitüden hinausgehend.


In dieser Hinsicht hat Bashô den Term, also das poetische Prinzip schlechthin für die Haikai-Dichtung, betont, nämlich das "atarashimi". Die Forderung nach dem Neuen, dem noch nicht Gewagten, nach neuen Sujets, nach neuen Herangehensweisen an alte Ideen und Themen und neuen Formen. Bashô hat das folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "Suche nicht die Spuren der Alten, suche, was sie suchten!" (2)


Bashô brachte beispielsweise mit seinem berühmten Frosch-Haiku ein neues Sujet in die Haikai-Dichtung, indem er Amphibien in einem bisher nicht dagewesenen Kontext präsentierte. Außerdem scheute er nicht dafür zurück, von "pissenden Pferden" und "Flöhen" zu berichten, was in der traditionell-höfischen Rengadichtung verpönt war, weil es als unschicklich und unfein galt.


Bashô weitete das poetische Feld der etablierten Assoziationen und war dadurch - überspitzt formuliert - ein Rebell, ein Avantgardist, der durchaus von Zeit zu Zeit das Metrum der 5-7-5 on (japanische Silben oder Lautzeichen) über Bord warf und auch mal Verse in 10-7-5 umsetzte. (3)


Bashô folgte dem Kreativen, "zoka zuijun", wie es in einer seiner Poetik-Anweisungen heißt. "Bashô's poetic developed a spatial dynamism with cosmologic depth." (4) (Bashôs Poetik entwickelte eine räumliche Dynamik mit kosmologischer Tiefe.)

Die Shômon-Schule öffnete die Haikai-Dichtung also für das Neue und bisher noch nicht Dagewesene, baute eine gangbare Brücke zwischen dem Traditionellen und dem Modernen.



II Nippon-ha (japanische Schule) - der historische Beginn


Historisch gesehen beginnt das moderne Haiku - "gendai" (Japanisch für "modern") genannt - mit Masaoka Shiki und seiner Nippon-ha (japanischen Schule) im frühen 20. Jahrhundert. Shiki machte das Hokku (Eröffnungsvers eines Kettengedichts) zum Haiku, um eine konsequente Trennung von der Kettendichtung zu erreichen und das Haiku zu einer eigenständigen Form zu erheben. Auf Shiki geht einer der bekanntesten und wirkungsvollsten Poetik-Ratschläge der Haikugeschichte zurück, nämlich das "shasei", die Skizze aus dem Leben; wonach möglichst objektiv der Wahrnehmung zu folgen sei. Ein Credo, das der weltgewandte Baseball-Fan Shiki dem europäischen Realismus der Malerei entlehnt hatte und somit das binnenjapanische Haiku für international Ideen öffnete. Allerdings hatte Shiki das "shasei" mehr für Haiku-Anfänger gedacht, damit sich diese von ihren Gedanken und Ego-Phantasien leichter zu lösen vermochten. Ähnliches schlug Bashô vor: "Lerne über die Föhre von der Föhre. (5)


Shiki sprach also vom "shasei" als Einstiegsebene, die in Folge irgendwann zum "erweiterten Realismus" und später zu "Wahrhaftigkeit" überführte. (6)


Dies ist insofern wichtig, als dadurch deutlich gemacht wird, dass die "alten Meister" nirgendwo Regeln einzementierten oder Gesetze anführten, die unverbrüchlich umzusetzen waren und das Eintauchen in die Wirklichkeit reglementieren sollten: Sie gaben in ihren Poetiken mehr oder weniger verbindliche Hinweise darauf, wie ein Haikuadept seine eigene Wahrnehmung, seine eigene Ästhetik entwickeln und schärfen konnte. In diesem Sinne existieren keine "Haikuregeln", sondern allein vielschichtige Poetiken diverser Haiku-Schulen. Das orthodoxe Haiku gibt es nicht, sondern allein die Entscheidung für eine Schule, einen poetischen Stil. Kurz und vereinfacht gesprochen: Wenn ein Haikuadept mehr subjektive Bezüge im Haiku sucht, mag er mehr in der Issa-Tradition stehen, setzt er bewusst auf die Kraft des Neuen relativ zum Alten, dann wird er wohl eher in Bashôs Shômonschule beheimatet sein ...


Shikis wichtigste Schüler waren Takahama Kyoshi und Kawahigashi Hekigotô. Ersterer galt während des 2. Weltkriegs als die konservative Persönlichkeit des Haiku und vertrat die Ansicht, dass das Haiku sich nur um "Blumen und Vögel" ("kachô fûyei"), poetisch kümmern und alle anderen Themen wie soziale, psychologische etc. außen vor lassen solle. Der Mensch soll die Natur nicht nur objektiv wiedergeben, sondern bewundern und verehren. (7)


Dem entgegen stand Kawahigashi Hekigotô, dem es mehr um eine weitgefasste Wirklichkeit und deren vertiefte, verzweigte Wahrnehmung und um die suggestive Kraft des Haiku ging. Er strebte "eine tiefe Verbindung mit dem Universum" an. (8)


III Wahrnehmung + Wissen = wirksame Wirklichkeit?


Nach dem zweiten Weltkrieg traten viele neue Richtungen und Schulen auf, die sich vor allem durch die starke Implikation des Menschlichen, also nicht nur der Observation der Natur, charakterisierten. (9)


Kurz gesagt, das Haiku spaltete sich in zwei Lager und zwei divergierende Richtungen: die "Kyoshi-Linie", in der die Schönheit der Natur beschrieben und ihr gehuldigt wurde, in der der Mensch als Wahrnehmender, "das fünf Fuß große Kind" geblieben ist, wie Bashô meinte, und sich aller anderen Ereignisse entzog; und die "Hekigotô-Linie", die auch den Menschen und all seine Schöpfungen und politischen Wirrungen und Dynamiken mit in das Dichten nahm, sich gewissermaßen von der Beschaulichkeit der Haiku-Dichtung entfernte. Die Hekigotô-Linie fügte der Wahrnehmung auch das Wissen hinzu. Ein einfaches Beispiel, um den Unterschied zu illustrieren: "Die Sonne geht auf" ist eine Wahrnehmung, die allerdings dem Wissen widerstrebt, zumal wir alle wissen, dass die Sonne nicht aufgeht und sich die Erde um die Sonne dreht. Beispiele für Dichtung, die über die Wahrnehmung hinausgehen, sind alle jene, die die sinnliche Wahrnehmung transzendieren, Erfahrungen thematisieren, die nicht unbedingt sinnfällig sind. Die "Wissensdichtung" löst sich von der Abfolge der Momente, entwickelt den "sechsten Sinn", der als Erfahrungssammlung menschlichen Wissens verstanden werden kann, und impliziert die historische Zeit wie die physikalische Raumzeit.


Das Haiku der Hekigotô-Linie ist somit nicht mehr unschuldig, es ist in den "großen Teich" der menschlichen Transaktionen gesprungen. Es kennt das Hässliche wie das Schöne. Es kennt die Natur und deren Kreationen. Es kennt die Geschichte und weiß, dass diese mehr ist als nur eine Gutenachtgeschichte. Es impliziert das Konkrete wie das Abstrakte, das laut Hegel auch das "Einfache", Wesentliche ist.


Die Wirklichkeit wiederum ist, laut Thomas Mann, "das, was wirkt." (10) Folglich geht die Wirklichkeit über die Realität (Dinghaftigkeit) des Objektiven hinaus und integriert auch das Surreale, Träume und Visionen und Fantasie. Wirklichkeit, die über die bloße Skizze aus dem Leben hinausgeht, und Wirkung sind zwei zentrale Begriffe der modernen Haikudichtung. Daraus ließe sich die Formel herleiten:


Wahrnehmung + Wissen = wirksame Wirklichkeit.


IV Traditionell (dentô) versus modern (gendai)


Wodurch unterscheidet sich das traditionelle Haiku nun vom modernen? Was verbindet alt und neu? Zunächst muss noch einmal darauf verwiesen werden, dass die Poetik diverser Schulen das Haiku in der jeweiligen Epoche bestimmen. Doch lassen sich einige grundlegende Differenzen und Übereinstimmungen markieren.

Das Haikai während der ideellen und vor der historischen Wende ins Moderne lässt sich durch folgende Merkmale charakterisieren:


1. Jahreszeiten- und naturgebunden (Kigo)

2. Kireji (Schneidewort)

3. festgelegtes, tradiertes, höfisches Themenkanon

4. etablierte Assoziationen


Hingegen wird das moderne Haiku vornehmlich durch folgende Merkmale charakterisiert:


1. evokative Schlüsselbegriffe (Muki), Kigo ist nicht verbindlich

2. die Implikation des Menschen (seines Wissens und seiner Handlungen)

3. kein fixer Themenkanon, das Neue (atarashimi) als Herausforderung und Forderung

4. Dissoziation (formal und inhaltlich), die zu neuen Assoziationen führt


V Yûgen - der "Duft des Haiku"


Was verbindet nun das traditionelle und das moderne Haiku? Ganz bestimmt die formale und inhaltliche Kürze (katakoto, Sinn für fragmentarische Sprache), die das Wesentliche nicht ausspricht, sondern allein andeutet, um so Raum für den Rezipienten zu schaffen. Das Haiku, alt oder neu, zeigt in Richtung Mond, um den Leser einzuladen, diesen selbst zu entdecken. Ein gelungenes Haiku beginnt, wenn es zu Ende ist, dann nämlich, wenn der Leser seinen Assoziationen freien Lauf lassen kann. Die Reduktion oder Komprimierung (shibumi) auf das Nötige, frei von blendenden Beiwerk, von Flickversen.


Zudem benötigt jedes Haiku, einerlei ob traditionell oder modern, eine Nebeneinaderstellung von zwei Ebenen, die die Beziehung zwischen zwei Elementen beschreiben oder andeuten. (11) Das Haiku setzt in Beziehung, in dem es nebeneinanderstellt. Das Haiku ist ein "Beziehungsgedicht", es deutet mögliche neue Verbindungen und Beziehungen zwischen Menschen und Phänomenen an.


Bashô sprach einst davon, dass "sabi der Geschmack des Haikai sei". (12) Vielleicht ließe sich daran anknüpfend und als universaler Nexus zwischen dem Traditionellen und dem Modernen der "Duft des Haiku"nennen: das "yûgen", das "Geheimnisvolle", das "Nichtzufassende", das pure Leben jenseits des Verstandes, die elegante und zeitlose Schönheit, "die kunstvoll erschaffene Vieldeutigkeit" (13). Jedes Haiku, das uns längere Zeit fasziniert, enthält etwas Mystisches, Geheimnisvolles, das, was nicht fassbar ist, aber spürbar: das Zeitlose, oder wie Bashô sagen würde, "das Unveränderliche im sich stets Verändernden." (14)


Die Übereinstimmungen im Haiku könnten folgendermaßen aufgelistet werden:


1. Kürze &- Reduktion (katakoto & shibumi)

2. Andeutung (yakusoku-goto)

3. Nebeneinanderstellung (kire)

4. "Duft des Haiku" (yûgen)


Ich hoffe, in aller Kürze, einige Orientierungspunkte im Kontrast und Wechselspiel zwischen "traditionell" und "modern" gegeben zu haben. Die Innovation von heute begründet die Tradition von morgen. Das Haiku befindet sich in Evolution, es will uns begeistern und wirksam sein, ungeachtet von Schulen und Schablonen. Das Haiku ist ein Gedicht der Beziehung, der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Wissen, eine Beziehung, die eine weite Wirklichkeit zur Wirkung bringt.

 

Quellenhinweise


(1) Ekkehard May (Hsg.), Shômon II, Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz, 2002

(2) Dietrich Krusche (Hsg.), Haiku - japanische Gedichte, Dtv, München, 1994

(3) Ban'ya Natsuishi, Modernity and Anti-urbanism in Matsuo Basho, Kadô 3/1, Juni 2014

(4) Ban'ya Natsuishi, Modernity and Anti-urbanism in Matsuo Basho, Kadô 3/1, Juni 2014

(5) Robert Hass (Hsg.), The Essential Haiku - Versions of Bashô, Buson & Issa, HarperCollins, New York, 1994

(6) Lee Gurga, Haiku: A Poet's Guide, Modern Haiku Press, Lincoln, IL, 2003

(7) Udo Wenzel, Haiku am Scheideweg, Haiku heute-Jahrbuch 2005, Tübingen, 2006

(8) Udo Wenzel, Haiku am Scheideweg, Haiku heute-Jahrbuch 2005, Tübingen, 2006

(9) Toshio Kimura, The Haiku Universe for the 21st Century, Japanese Haiku 2008, Gendai Haiku Kyokai, Tokyo, 2008

(10) Thomas Mann, Doktor Faustus, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 1960

(11) Dietmar Tauchner, Steg zu den Sternen - Die Ästhetik des Haiku, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, 2012

(12) Robert Hass (Hsg.), The Essential Haiku - Versions of Bashô, Buson & Issa, HarperCollins, New York, 1994

(13) Hiroaki Sato, Snow in a Silver Bowl - A Quest for the World of Yûgen, Red Moon Press, Winchester, VA, 2013

(14) Haruo Shirane, Traces of Dreams, Stanford University Press, Stanford, CA, 1998



*Vortrag anläßlich des ersten internationalen Haiku-Symposiums der ÖHG im Kunstraum Wien, im November 2014



Vita



Dietmar Tauchner,geboren am 14. Juni 1972 in Neunkirchen (Österreich), lebt in Puchberg am Schneeberg und in Wien. Lyriker, Essayist, Sozialberater und -pädagoge; Begründer der Poesiekinästhesie.

Lesereisen und Vorträge in den USA, Japan und Europa. Unter anderem Referent bei der Haiku North America Conference 2005 in Port Townsend und beim ersten Europäischen Haikukongress in Bad Nauheim 2005 und beim zweiten 2007 in Vadstena, Schweden. Lesung bei der Leipziger Buchmesse 2012.


Publikationen in zahlreichen internationalen Online- und Printmagazinen und Anthologien, wie: Haiku in English - The First 100 Years (W.W.Norton, 2013); Haiku 21 (Modern Haiku Press, 2011), Haiku Hier und Jetzt (dtv, 2012);

Acorn (USA), Frogpond (USA), CET (Deutschland), Haiku heute (Deutschland), KO (Japan), Mainichi Daily Nes (Japan), Ginyû (Japan), Modern Haiku (USA), Mayfly (USA), Sommergras (Deutschland) ...


Erster Preis beim internationalen Kurzlyrikwettbewerb Ludbreg, Kroatien, 2005, und beim Haiku International Association Award in Tokio, Japan, 2008, 2011 und 2014. Preisträger (Creativity Prize) und Ehrenmitglied der Naji Naaman Literaturgesellschaft Beirut, Libanon, 2009. Ehrenmitglied der Östereichischen Haikugesellschaft; Mitglied der Haiku Society of America, der IG-Autoren und des Österreichischen Schriftstellerverbandes und der Akademie für Poesietherapie.

2005, 2009 und 2010 Gewinn des Nyuusen-Preises; 2011 und 2012 des Tokusen und 2013 den Taishen (Grand Prize) beim Kusamakura Haikuwettbewerb in Kumamoto, Japan. Zweiter Platz beim Mainichi Haiku Contest in Tokio, 2011, 2013 und 2014. Zweiter Preis für "Rauschen unseres Ursprungs" beim 2014 HSA Mildred Kanterman Merit Book Awards. Bader-Waissnix-Preis, Schloss Wartholz 2015.


Redakteur der "World Haiku Review" bis 2005 und bei "Haiku heute" bis 2006. 2007 - 2012 Herausgeber des internationalen Kurzlyrikmagazins Chrysanthemum. Mitglied des "RMA Editorial Staff" seit 2013. Mitherausgeber von VerSuch, das projekt gendai-haiku.



Publikationen


Nachtnautik, Gedichte & Haiku, Taipan Classic; Wien 2009

As Far As I Can, Red Moon Press; Winchester, USA, 2010

Die Sinnfonie des Seins, Taipan Classic; Wien 2011

Schnee (Mit Bernd Bechtloff & Blixa Bargeld), Hörspiel, Moksha Music, St. Veit, 2011

Steg zu den Sternen, Wiesenburg Verlag; Schweinfurt 2012

Noise of Our Origin, Red Moon Press; Winchester, USA, 2013

Unsichtbare Spuren, Red Moon Press; Winchester, USA, 2015